Russland ohne Opposition?
Informationsabend mit Viktor Funk am 2. November 2023 in Ingelheim
Die furchtbaren Massaker von Hamas-Terroristen auf Zivilist:innen in Israel und der anschließende Krieg in Gaza haben den Krieg in der Ukraine aus den Schlagzeilen verdrängt. Aber dort hat sich die Situation in keiner Weise verbessert. Inzwischen droht ein langer Abnutzungskrieg, mit weiterhin vielen Toten täglich. Ein klarer, schneller militärischer Sieg erscheint zurzeit ebenso unwahrscheinlich wie ein Einlenken Putins. Doch wie ist die Situation in Russland wirklich? Ist es realistisch, dass sich dort – gegen Putin – politische Kräfte durchsetzen, die gegen den Krieg eingestellt sind und dessen Ende anstreben?
Erhellende, wenn auch nicht unbedingt optimistische Einblicke zu dieser Frage gab der in Kasachstan geborene „Russland-Kenner“ und langjährige Politik-Redakteur der Frankfurter Rundschau, Viktor Funk, bei einem Informationsabend in Ingelheim, der vom pax christi-Regionalverband Rhein-Main in Kooperation mit der Fritjof-Nansen-Akademie und der Geschäftsstelle Weltkirche/Gerechtigkeit und Frieden im Bistum Mainz veranstaltet wurde.
Die inländische politische Opposition ist weitgehend ausgeschaltet
Viktor Funk beschrieb zunächst die Situation der durchaus heterogenen inländischen Opposition gegen die Putin-Regierung. Politisch Oppositionelle sind weitgehend ausgereist oder wurden verhaftet, noch in Freiheit lebende sind keine Gefahr mehr für das Machtsystem. Sie halten sich bedeckt. Manche Organisationen wie etwa die „Soldatenmütter“ beraten ehemalige Soldaten, die in der Ukraine im Einsatz waren. Funk nannte einige Namen, die auch im Ausland bekannt sind, so etwa die Organisation „Open Russia“, gegründet von Michail Chodorkowski. Bekannte Namen sind auch Wladimir Kara-Mursa, die ehemals rechte Hand des ermordeten Boris Nemzow. Auf ihn wurde wie auf Alexei Nawalny ein Giftanschlag verübt. Alexej Gorinow ist ein bekannter Moskauer Kommunalpolitiker, der gegen das Gesetz zur Diskreditierung der russischen Armee verstoßen hat. Die Künstlerin Alexandra Skotchilenko wurde kürzlich zu sieben Jahren Haft verurteilt. Die Plattform OVD-Info dokumentiert Verhaftungen bei Demos. So wurden 19.700 Festnahmen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg gezählt. Um diese Festnahmen herum gab es ca. 800 Strafverfahren, alle anderen kamen wieder in Freiheit. Hier half also Öffentlichkeitsarbeit.
Die Behörden versuchen, Oppositionelle mit Gewalt auszuschalten. Inzwischen werden auch Anwälte von Oppositionellen verfolgt. Das erinnert – so Funk – zunehmend an die Situation in China, manche sogar an die Stalin-Zeit. Diese Repressionswelle findet statt seit der „Vollinvasion“ in der Ukraine. Diese Repressionsmethoden gab es allerdings schon länger, neu ist das Ausmaß. So hat die Menschenrechtsorganisation „Memorial“ im Jahr 2015 46 Fälle politischer Repression dokumentiert, im Oktober 2022 waren es 602 – nach den strengen Kriterien von amnesty international. Real seien es viel mehr, so Funk. In den besetzten ukrainischen Gebieten versuchen die russischen Behörden, Menschen in den Kampf gegen die Ukraine zu zwingen – auch durch Folter. Das belegen nach der Befreiung aufgefundene Foltergefängnisse.
Die inländische islamistische Opposition ist eine reale Bedrohung für das Regime
Neben der politischen gibt es im heutigen Russland eine sehr radikale religiöse Opposition, die mit den Werten einer liberalen Demokratie nichts zu tun hat: Der Nordkaukasus ist ein wichtiges Rekrutierungsgebiet für islamistische Kämpfer in Syrien. Hier sind entsprechende Netzwerke entstanden. Der russische Staat versucht, die Region mit sehr viel Geld ruhig zu halten. Pogromartige antisemitische Ausschreitungen wie Mitte Oktober in der russischen Teilrepublik Dagestan sind bezeichnend, denn hier leben nur etwa 1800 Juden. Dieses Pogrom hatte wohl weniger Antisemitismus als Ursache, sondern ist Ausdruck von starken separatistischen und islamistischen Bestrebungen in dieser Region: „Wenn es in Russland wirklich knallt, dann im Nordkaukasus.“
Unabhängige Informationsquellen sind schwer zugänglich
Die wichtigste Infoquelle für die normale Bevölkerung ist das Fernsehen. Es gibt keine freien Fernseh- und Radiosender oder Zeitungen mehr. Ältere Menschen informieren sich vor allem über diese klassischen Medien. Um auch kritische Stimmen zu hören, sind Telegram-Kanäle, aber auch You Tube und ausländische Medien wichtig. Doch sie sind nicht gut erreichbar, man benötigt einen VPN-Client. Noch gibt es auch einige unabhängige Digitalmedien wie „Nova Gazeta“ und Medien-Start-ups. Die Behörden versuchen nun dagegen vorzugehen. So werden die Info-Korridore verkleinert. Die Diffamierung der Opposition als „ausländische Agenten“ ist umfassend. Alle oppositionellen Medien schalten vor ihre Meldungen den sarkastischen Satz: „Diese Nachricht kommt von einem ausländischen Agenten.“
Russische Medien kann man trotzdem nutzen
Manche Redaktionen versuchen, Nachrichten unauffällig zu platzieren. So hat die Tageszeitung „Kommersant“ Statistiken aus Wladiwostok zum Kauf von Blumen und Kränzen veröffentlicht, anhand derer die Sterblichkeitsrate von Rekrutierten ermittelt werden kann. „Telegram“, ein in Russland entwickelter Messangerdienst, liefert sehr gute Infos. Es gibt saubere Kanäle, die realistisch über Verluste berichten. Prigoschin – der Chef der „Wagner-Söldner“ – hat viel über diese Medien publiziert, offen über Verluste geredet. Er hat bestialische Bilder, aber auch Infos geschickt, die kein staatlich kontrolliertes Medium zeigte. Er hatte Hunderttausende Follower und sich dadurch offenbar auch in einer falschen Sicherheit gewähnt.
Seit dem Jahr 2000 steigt der Druck auf oppositionelle Organisationen zunehmend: Zunächst wurden Umweltgruppen mit einer Steuer belegt, dann Menschenrechtsorganisationen, jetzt geht der Staat gegen einzelne Personen konkret vor. Es gibt kaum noch ausländische Journalist:innen. Stefan Scholl von der Frankfurter Rundschau ist einer der wenigen verbliebenen.
Die Opposition im Ausland ist zerstritten
Zentren der russischen Opposition im Ausland sind Riga und Berlin, wo – wie schon nach der Oktoberrevolution 1917 – richtig große „Exil-Blasen“ entstanden sind.
Ein großes Problem für nach Deutschland Geflüchtete ist der Aufenthaltsstatus. Die meisten wollen keinen Asylantrag stellen, denn dann hätten sie keine Rückkehroption mehr. 2022 gab es 4.300 Asylanträge, bis September 2023 schon 7.000. Die Hälfte der Anträge kam von Wehrpflichtigen, aber nur 90 von ihnen wurden positiv beschieden. Denn die Verfolgung wegen Kriegsdienstverweigerung allein ist in Deutschland kein Asylgrund; wohl weil ansonsten auch Kriegsdienstverweigern aus befreundeten Staaten Asyl gewährt werden müsste. Geflohene Wehrpflichtige werden aber in Deutschland geduldet. Wichtig ist die Arbeit von Connection e. V. und amnesty international, ihnen einen sicheren Status zu verschaffen. Doch das bleibt schwierig. Man lässt sie in Ruhe, aber ihr Status ist eingeschränkt, gerade in der EU.
Inzwischen verlangt etwa Belarus, dass jemand zurückkehren muss, um abgelaufene Papiere zu erneuern. Das Gleiche befürchten russische Exilant:innen.
Leider zeigt sich auch eine alte Exiltradition: So streitet sich das Nawalny-Team, das sich bisher auf korrupte Politiker fokussiert hat, heftig mit der Gruppe um Chodorkowski. Es ist zu vermuten, dass im Hintergrund dieser Streit vom russischen Regime bewusst geschürt wird, um die Opposition zu spalten und damit zu schwächen.
Das Putin-Regime unterstützende Netzwerke zeigen sich im Ausland etwa bei sogenannten Friedensdemonstrationen. Hier sind einige wenige Aktivisten tätig, die teilweise vom russischen Staat finanziert werden. Eine wichtige Rolle hierbei spielt etwa das „Kulturhaus“ in Berlin (wie alle Kulturhäuser autoritärer Staaten).
Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) steht fest hinter Putin
Die ROK spielt für Putin eine wichtige Rolle. Bekannt ist, dass Patriarch Kyrill früher Mitarbeiter des KGB war. Er und Putin kennen sich aus der gemeinsamen St. Petersburger Zeit. Funk zitierte Putin mit den Worten: „Es gibt keine ehemaligen Geheimdienstler.“
Die ROK hat den Krieg in der Ukraine von Anfang an unterstützt. Ein Aufruf von 300 Geistlichen gegen den Krieg führte zu deren Abstrafung. So wurde der Fall eines Priesters bekannt, der sich selbst öffentlich in einem Gottesdienst der Illoyalität bezichtigen musste. „Wie zu Stalins Zeiten“, so Funk. Putin hat bei einer öffentlichen Veranstaltung im Moskauer Stadion aus dem Johannes-Evangelium zitiert (10,13): „Niemand hat größere Liebe als wer sein Leben gibt für seine Freunde.“ Viktor Funk: „Er erwartet Opferbereitschaft. Dieses Thema findet man immer in Putins Reden. Aber Opferbereitschaft natürlich nur von anderen!“
Die Treue von Patriarch Kyrill zum Staat führte inzwischen zur Spaltung der ROK, auch im Ausland. Die wichtigste Spaltung gab es in der Ukraine: Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (Moskauer Patriarchat) ist eine 1990 entstandene Orthodoxe Kirche in der Ukraine mit Sitz in Kiew, die zunächst Teil der Russisch-Orthodoxen Kirche war, bis sie sich am 27. Mai 2022 endgültig von dieser lossagte. Bereits 1991 spaltete sich nach der Unabhängigkeit der Ukraine ein Teil des ukrainischen Klerus von der Moskauer Führung ab, verlegte sein Zentrum nach Kiew und nannte sich Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats (UOK-KP).
Inzwischen gibt es keine ausländische orthodoxe Kirche mehr, die Russland unterstützt. Viele orthodoxe Gemeinden etwa in Deutschland setzen sich für ukrainische Flüchtlinge ein. Kyrill hält gezwungenermaßen zu Putin, um an der Macht bleiben zu können. Er war immer Geheimdienstler, vertritt sogenannte traditionelle Werte – Familie, Vaterland, Anti-Homosexualität – und argumentiert gegen einen westlichen Lebenswandel. Von der ROK ist also, so Funk, weiterhin kein Protest gegen den Krieg zu erwarten.
Der ideologische Panslawismus ist von eher untergeordneter Bedeutung
Eine panslawische Ideologie – kulturelle, politische und religiöse Einheit – wird laut Funk lediglich von einer Gruppierung getragen, die zwar hoch ideologisiert ist, aber nicht viel Einfluss hat. Hingegen sind die vielen Opportunisten, die gutes Geld verdienen, „eine Riesenreklame“ im Krieg. Die Alltagssorgen der Menschen sind groß. Doch im letzten Jahr hat das Regime die Inflation etwas in den Griff bekommen. Es bringt die Leute auch nicht auf die Straße, dass man bestimmte Produkte nicht mehr bekommt. Das Regime achtet besonders auf die Zentren – das war schon in der Sowjetunion so. Die wenigen Proteste entstanden bisher nicht aus wirtschaftlichen Gründen. Hier ging es gegen die Mobilisierung der Männer für den Krieg. Es waren vor allem Proteste von Frauen in der Peripherie.
Sanktionen haben für die Bevölkerung geringe Bedeutung
Man sollte die Wirkung von Sanktionen nicht überschätzen. Der staatliche Apparat hat über 100 Jahre Erfahrung, graue Importwege zu finden. Und die Oligarchen werden mit eingeschränkten Transparenz-Gesetzen geködert – nach dem Motto: „Vergiss deine Immobilien in London oder sonstwo, dafür schaut unsere Kapitalstelle nicht so genau auf deine Geschäfte.“ So ist noch immer sehr viel Geld zu machen.
40 Prozent der Bevölkerung sind inoffiziell für den Krieg, offen sind es über 30 Prozent. Die herrschende Mentalität der Bevölkerung beschrieb Funk mit einem bekannten Sprichwort: „Wir sind das letzte Häuschen im Dorf“, sprich: Wir ducken uns weg, harren aus. Das versuchen die meisten Menschen. Sie bleiben politisch passiv. Putin habe verstanden, dass er Druck ablassen musste, und hat so Auswanderung ermöglicht. Viele der Kritischen, der Kreativen, der gut ausgebildeten Jungen sind ins Ausland gegangen – jene, die noch da sind, machen keine Probleme. Inzwischen erschweren die Behörden weitere Auswanderung, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen.
Nach 2014 gab es einen Witz in Russland, der über alle Mängel trösten sollte: „Krim nasti“ – „aber dafür gehört die Krim uns“.
Die Lebenssituation außerhalb von Ballungsräumen ist schlechter als dort, aber immer noch besser als in den 1980/90er-Jahren. Funk: „Man muss klar sagen: Der Bevölkerungsmehrheit der Russen ging es noch nie so gut wie jetzt! Die 1990er-Jahre waren ein „Warte-Vakuum“. Putin hat es geschafft, wieder Hoffnung zu wecken: Euer Leben ist nicht sinnlos gewesen, ihr habt was geleistet. Putin will in der Liga der Mächtigsten mitspielen. Das kommt an.“
Die Aussichten für die Zukunft sind eher düster
Funk wagte keine Prognose, wie sich die Situation in Russland weiter entwickeln werde. Aber er benannte einige Schlaglichter:
- Die Unruhen in Dagestan (wie auch der Fall Prigoschin) kamen selbst für den extrem großen Sicherheitsapparat völlig unerwartet. Er hat hier versagt. Vor wenigen Jahren gab es dort schon Proteste gegen die Entsendung in den Krieg. Die wirtschaftliche Lage ist sehr prekär, ähnlich in Tschetschenien und Inguschetien. Der Nordkaukasus bleibt für Putin ein Problem.
- Funk zitiert aus einem Gespräch mit der russischen Politikwissenschaftlerin Jekaterina Schulmann: Könnte durch den Tod Putins alles auseinanderfliegen? Schulmann ist sehr vorsichtig. Das Regime sitzt fest im Sattel und könnte vermutlich auch damit umgehen. So etwas wie ein Cäsarenmord durch Oligarchen ist eher nicht zu erwarten. Deprimierend ist, dass die Stimmung in der Bevölkerung nicht für den Krieg, aber auch nicht gegen ihn ist. Eher hinnehmend. Es gibt keinen Widerstand gegen die derzeitige Außenpolitik.
- In Nischni Tagil (1500 Kilometer östlich von Moskau), wo Panzer hergestellt werden, haben die Kitas ihre Öffnungszeiten auf zwölf Stunden an sechs Tagen erhöht – ein klarer Hinweis auf die Umstellung auf Kriegswirtschaft.
- So etwas wie eine echte Opposition gibt es nur noch als religiös-radikale (Islamismus) oder extremistische (Prigoschin). Ein echter Aufstand ist sehr unwahrscheinlich. Ansätze dazu gab es noch nach der Mobilmachung, weil da vieles mächtig schiefgelaufen ist. Aber jetzt nicht mehr.
Putins eigentliche Angst ist laut Funk, dass neben Russland ein moderner Nachbarstaat entsteht, der auf allen Ebenen funktioniert. Dass dort Menschen gut leben können, die andere Vorstellungen vom Leben haben, ein anderes Bildungssystem haben, Eigenständigkeit entwickeln. Dies könnte vielen Menschen in Russland vor Augen führen, dass ein besseres Leben auch für sie möglich ist.
Außenpolitisch kann Russland effektiv für „Stress“ sorgen, hat aber keine Ressourcen für einen weiteren Angriff auf Nachbarstaaten. Auch die Ukraine zu erobern, wird nicht möglich sein. Russland kann nur woanders „stressen“, etwa in der Enklave Kaliningrad oder Transnistrien – das Funk für gefährdet hält. Funk schloss seinen Vortrag mit einem Zitat des langjährigen SPIEGEL-Redakteurs Christian Esch im Jahr 2011, als Putin zurück an die Macht kam. Esch sagte damals: „Russland ist entglitten.“
Alois Bauer
Theologe und Mitglied im Vorstand von pax christi Rhein-Main