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Fachkonferenz zur Zeitzeugenarbeit 2023

Zeitzeugen

Bericht zur Fachkonferenz zum Thema Zeitzeugenarbeit im Oktober 2023

► Die Fachkonferenz zum Nachlesen

Was kommt nach den Zeitzeug:innen?

Diese Frage bewegt uns in der schulischen und außerschulischen Erinnerungs- und Gedenkarbeit zum Themenkomplex Nationalsozialismus zunehmend. Die Erinnerung an NS-Verbrechen und die Weitergabe von Wissen über diese Zeit wird in Zukunft nicht weniger wichtig werden, im Gegenteil: Mit größerem zeitlichen Abstand und dem Verlust der Zeitzeug:innen wird sie noch bedeutender. Entsprechend gilt es neue Ansätze und Formate zu finden, welche die Zeugnisse und Geschichten von Überlebenden der NS-Diktatur und des Holocausts bewahren, forttragen und in Bezug zu den Lebenswirklichkeiten nachfolgender Generationen stellen.

Vor diesem Hintergrund luden pax christi Rhein-Main, das Bistum Mainz/Geschäftsstelle Weltkirche, das Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz Mainz, das Maximilian-Kolbe-Werk und das Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN am 9. Oktober 2023 zu einer Fachkonferenz nach Mainz ein. Unter dem Motto „Zur Erinnerung?“ kamen zahlreiche Aktive von kirchlichen, staatlichen und freien Bildungswerken, von Verbänden, die sich in der Erinnerungs- und Gedenkarbeit engagieren, und interessierte Lehrer:innen aus hessischen und rheinland-pfälzischen Schulen für einen äußerst produktiven Tag zusammen.

Das Programm der Fachkonferenz spannte einen Bogen zwischen der bisherigen Zeitzeug:innenarbeit und zukünftigen Herausforderungen und möglichen Erweiterungen. Entsprechend begann der Tag mit einem Rückblick auf die bisherigen Erfahrungen. Stephanie Roth stellte zunächst die Arbeit des Maximilian-Kolbe-Werks vor, das seit 50 Jahren Hilfe für die Überlebenden der NS-Ghettos und Konzentrationslager bereitstellt und sich für Versöhnung zwischen den Völkern einsetzt. Hiernach berichtete Alois Bauer von den Anfängen der Besuche von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Bistum Mainz und den Entwicklungen der vergangenen 22 Jahre.

Thomas Altmeyer vom Studienkreis Deutscher Widerstand 1933–1945 hielt anschließend einen Impulsvortrag, in dem er einerseits die Entwicklung der Arbeit mit Zeitzeug:innen sowie die Aufgabe und Wirkung ihres Einsatzes nachzeichnete und andererseits aufzeigte, wie ihr Vermächtnis in Zukunft gesichert und weitergegeben werden kann. Darauf aufbauend hatten die Teilnehmer:innen Gelegenheit, sich im Rahmen von Workshops mit verschiedenen Formaten zu beschäftigen, die die Botschaft der Zeitzeug:innen auch zukünftig forttragen können. So stellte Henrik Drechsler vom „Haus des Erinnerns“ die Arbeit mit Videointerviews vor, während Christian Zipfel von der Filmuniversität Babelsberg Einblicke in eine digitale Begegnung mit Zeitzeug:innen durch Virtual-Reality-Anwendungen gab. Theresa Michels und Julie Windschutz vom Verein Zweitzeugen e. V. zeigten, wie junge Menschen sich mit einzelnen Biografien beschäftigen und gemeinsam mit Zeitzeug:innen die Weitergabe der Lebenszeugnisse entwickeln und diese weitergeben können. Außerdem stellte Özge Özdemir die Bildungsinitiative Ferhat Unvar vor, die als Reaktion auf das rassistische Attentat vom 19. Februar 2020 in Hanau gegründet wurde. Ausgangspunkt ihrer Empowerment- und Aufklärungsarbeit sind die Geschichten der in Hanau getöteten Menschen und Zeugnisse der Überlebenden.

Nach diesen vielfältigen Eindrücken kamen die Teilnehmer:innen anschließend in einen intensiven Austausch. Bei der von mir angeleiteten Zukunftswerkstatt standen Fragen zur Sicherung der bisherigen Arbeit mit Zeitzeug:innen im Vordergrund. So wurden Herausforderungen im Schulalltag wie beispielsweise mangelnde zeitliche Kapazitäten, strukturelle und technische Hürden und Unterschiede in den Partizipationsmöglichkeiten im Hinblick auf pragmatische Lösungsansätze diskutiert. Materialien zur Vor- und Nachbereitung der Zeitzeug:innengespräche im Unterricht werden auf der Website von pax christi Rhein-Main zur Verfügung gestellt.

Die Zukunftswerkstatt widmete sich außerdem der Frage, wie bisherige Ansätze der Zeitzeug:innenarbeit im Kontext der Demokratiebildung erweitert werden können. Diese Erweiterung wurde mit Blick auf die Perspektive – z. B. eine Auseinandersetzung auch mit Täterbiografien –, den Kontext – beispielsweise die Berücksichtigung von Opferzeugnissen aus östlichen Ländern jenseits von Polen – sowie den Zeitpunkt – die Beschäftigung mit aktuellen Konflikten innerhalb und außerhalb Deutschlands – besprochen (siehe auch den Artikel in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift: „Erinnerungen aus der Gegenwart“).

Während die Teilnehmer:innen eine solche Erweiterung der Arbeit mit Zeitzeug:innen begrüßten, bestand Einigkeit darin, dass Unterschiede zwischen den Zeugnissen stark herausgearbeitet und eine potenzielle Hierarchisierung zwischen Zeitzeug:innen verhindert werden müsse. Die Teilnehmer:innen stimmten auch darin überein, dass Strategien zur Stärkung der Demokratie den Einsatz ausreichender Ressourcen und Anstrengungen in allen Lebensbereichen – Bildung, Politik und Gesellschaft – erfordern. Dabei bekundeten sie ihr großes Interesse, solche Strategien und zukunftsfähige Formen für die Zeitzeug:innenarbeit weiter gemeinsam entwickeln zu wollen. So bot die Fachkonferenz keine abschließende Antwort auf die Frage „Was kommt nach den Zeitzeug:innen?“, sondern einen gelungenen Auftakt für die zukünftige Zusammenarbeit in der Rhein-Main-Region.

Andra Avram

Friedens- und Konfliktforscherin und Friedensreferentin beim pax christi Regionalverband Rhein-Main