Eine Veranstaltung im Haus am Dom (HAD) am 10. Juli 2024.
Verantwortet von dem Zeitzeugenprojekt im Bistum Limburg und dem Fritz-Bauer-Institut Frankfurt durch Marc Fachinger und Nadine Docktor.
Vor ca. 60 Jahren wurde der Auschwitzprozess im Haus Gallus in Frankfurt eröffnet. Ein wichtiges Ereignis bei der Bewältigung der NS-Zeit in Deutschland. Gerhard Wiese, einer damals von Fritz Bauer, dem hessischen Generalstaatsanwalt, hinzugezogener junger Staatsanwalt hat im Haus am Dom berichtet:
Fritz Bauer wollte auf keinen Fall Juristen bei diesem Prozess haben, die im „3. Reich“ verantwortlich tätig waren. Wiese erzählte wie bedeutungsvoll und wirksam die Rolle der Zeuginnen und Zeugen bei der Wahrheitsfindung gewesen war. Denn das Mantra der Angeklagten war fast unisono „Nichts gewusst“.
Die Prozessbeteiligten konnten sich bei einer dramatisch verlaufenen Informationsreise nach Krakau und Auschwitz informieren (unter anderem fiel der Flug wegen schlechten Wetters aus und man musste von einem anderen Ort mit einer Sondermaschine nach Polen fliegen). In den Konzentrationslager Auschwitz und Birkenau konnte sie selbst sehen, dass die Angeklagten die Schreie der Gefolterten hören mussten und dass die Befehlshaber die Erschießungen von ihren Räumen aus sehen mussten. Auch wenn es ihre Meinung vielleicht nicht geändert hatte, wurden die Verteidiger der Nazi-Schergen deutlich stiller. Auschwitz stellte sich somit jedem als durchorganisierter Vernichtungsbetrieb dar.
Wieder in Deutschland versuchte Gerhard Wiese, so erzählte er, die Bundesanwaltschaft von seinen Erkenntnissen zu überzeugen. „Mit diesem Verfahren werden sie bei uns kein Glück haben“ war die ablehnende Reaktion in Karlsruhe. Zum Glück gab es damals in Frankfurt Fritz Bauer. Wiese war erst 2 Jahre Staatsanwalt und hatte durch Fritz Bauer den Impuls seines Lebens bekommen. Bauer erreichte sein Ziel, nämlich rechtskräftig festzustellen, was in Auschwitz geschehen war.
Auf die Frage wie belastend seine Arbeit für ihn gewesen sei, blieb Wiese ganz der sachliche Jurist und beschrieb, wie froh er war abends in die überfüllte Straßenbahn zu steigen und in das normale Leben einzutauchen.
Für die damals angereisten Zeug:innen aus dem Ausland war es retraumatisierend wieder die deutsche Sprache zu hören und sich in dem Gerichtssaal einzufinden, vor den Zeugenstand zu treten, der Übersetzerin zuzuhören und rechts vor sich den geschlossenen Block der Angeklagten zu sehen. Da es kaum Dokumente zur Verfügung gab, musste sich die Beweisführung sehr stark auf die Zeugenaussagen stützen. Die SS hatte sehr viele Dokumente vernichtet und die Sowjetunion rückte die Dokumente, die in ihrem Besitz waren, nicht heraus. Ein Angeklagter, der Adjutant des Lagerkommandanten, Robert Mulka, wurde aber tatsächlich durch ein Dokument überführt. Man fand seine Unterschrift unter eine Zyklon-B-Bestellung.
Einige Prozesszeug:innen wohnten bei Mitgliedern der Mammolshainer Pax Christi-Gruppe in privaten Quartieren. Damals eine wichtige menschenfreundliche Aktion; denn zunächst wurden in Frankfurt Angeklagte und Zeug:innen, gemeinsam in einem Hotel untergebracht. Wie sich Täter und Opfer beim Frühstück begegnet sein könnten, möchte man sich eher nicht konkret vorstellen. Insofern war es für die Zeug:innen eine Erleichterung bei wohlwollenden und empathischen Privatleuten freundlich aufgenommen worden zu sein.
Während der Veranstaltung mit Gerhard Wiese wurde zusätzlich deutlich, dass heutige Zeitzeugengespräche und entsprechende Veranstaltungen sehr wichtig sind. Damals, 1963, hatte man die Bedeutung der Zeitzeugengespräche für junge Leute nicht gleich erkannt. Die Erfahrungen von damals haben Wiese nachhaltig geprägt. „Ich war Staatsanwalt, und was auf den Tisch kommt, muss bearbeitet werden“ sagte er mit gewisser Distanziertheit. Aber, „wenn mir das nicht nachgegangen wäre, würde ich nicht in die Schulen gehen – und säße auch heute nicht hier.“ Frau Docktor und Herrn Fachinger sei herzlich gedankt und ganz besonders Herrn Oberstaatsanwalt Wiese.
Rüdiger Grölz